Ungeschminkt – der SAAB mit Eyeliner
Summer in the City. Blauer Himmel mit weißen Schäfchen über und eine rote Ampel vor uns. SAAB-typisch serienmäßig getönte Scheiben und das silberfarbene Dach filtern bzw. reflektieren die Sonne und machen es der Klimatisierung des 9-3 I leicht. Wir halten hinter einem Mercedes der E-Klasse. Neben mir meine geliebte Frau mit Kugelbauch.

Meine rechte Hand wandert zu ihrer linken oder gar auf das Bäuchlein. Ich weiß es nicht mehr so genau. In jedem Fall hätte die Atmosphäre im SAAB nicht schöner sein können. Wir lächeln uns an und sind in froher Erwartung …
… als es kracht und splittert und wir nach vorne geschleudert werden.
Ein trauriger Abschied
Die E-Klasse vor uns war ein paar Zentimeter kürzer, ohne dass man der Front des SAABs viel angesehen hätte. Dem SAAB-Heck oder der Front des Ford Mondeos, der dort reingerauscht ist, aber schon. Szene und Folgen ließen sich ausführlicher schildern, aber unter dem Strich steht, dass der 9-3 I seinen Job und seine Schuldigkeit unfreiwillig und unverschuldet sehr gut erledigt hatte. Der wachsenden Familie ging es gut, aber sie brauchte einen neuen SAAB.
Ein frischer Lidstrich
Die Wahl fällt auf einen schwarzen 9-5 SC mit dem BioPower 2.0t und Chrombrille. Er stand bereits bei einem Händler, war sofort verfügbar und günstig. Und er fühlt sich gut an. Er begeistert sogar, so lange er neu und ungewohnt ist. So genial das Fließheck auch war, der Kofferraum des SC ist größer und vor dem Auto scheinen Straße und Schilder nachts doppelt so hell, dank Xenon-Licht. Der 9-5 ist leiser. Bei Schleichfahrt kommen immer wieder Zweifel auf, ob der Motor überhaupt an ist. Ein Tritt auf das Gaspedal bringt Klarheit. Der gehirschte Turbo spielt in einer anderen Liga als der Saugmotor, den wir im 9-3 hatten.
Ein neues Lieblingsspiel mit einfachen Regeln. Man hält sich bei Baustellen auf Autobahnen ans Tempolimit und beschleunigt erst, wenn man wieder darf. Längst sind ein Audi, ein Mecedes und was auch immer ein bis zwei Spuren nach links ausgeschert, wachsen im Außenspiegel oder sind gar schon auf gleicher Höhe neben uns.
Dann erst tritt der SAAB zu. Mit „nur“ 340 Nm und 220 PS aus regenerativer Energie. Des Fahrers Seitenfenster ist plötzlich wieder leer und in den Spiegeln des BioPowers scheint der Rest der Welt abzubremsen. Der Durchzug ist faszinierend …
Die Chrombrille ist neu, SAAB noch knapp am Leben und sogar lebendiger Mythos! Bemerkungen aus unserem Umfeld lauteten: „Was ist denn das für ein Schlachtschiff?“ oder „Oh, ein SAAB! Sicher nicht ohne! Was steckt denn da unter der Haube?“ Mitfahrer äußerten sich begeistert. Von Mitleid keine Spur …
Aber wie ist die eigene Wahrnehmung 2019, nach knapp 12 Jahren und gut 125.000 Km?
Alterung & Alltag einer Schwedin
Die trockene Wahrheit ist, SAAB ist lange pleite und ich bin heute weder als „Markenbotschafter“ noch ökologisch überlegen unterwegs. Ich fahre einen nicht mehr jungen und technisch beliebigen Benziner, einen Kombi der oberen Mittelklasse mit einem 5-Gang-Getriebe. Ohne E 85 drückt das ökologische Gewissen und ich fahre langsamer, ruhiger und insgesamt weniger. Ich fahre SAAB. Im Alltag und als Reiseauto.
Investitionen beschränken sich auf einen neuen Lader und 2018 eine neue Kupplung, was in Ordnung geht. Und doch ist der ursprüngliche Vorsatz, das schöne Auto penibel in Ordnung halten und pflegen zu wollen, leider längst aufgegeben. Es sind nämlich die Kleinigkeiten, die schwer umzusetzen sind.
Da greift der Vertraute schon mal zu Heißkleber oder Kabelbindern, um das Brillengestell bzw. die Motorabdeckung zu fixieren. Oder ein defekter Stellmotor der blockierten Tankverriegelung fliegt ersatzlos raus. Als er wieder lieferbar ist, muss die Innenverkleidung zum zweiten Mal raus und wieder rein.
Das kostet Zeit, Nerven, Geld und tut dem Auto nicht gut. Kunststoffteile sind nicht dafür gedacht, dass man sie öfter als nötig anfasst. Außen sorgen die Alterung und improvisierte Lösungen optisch für kleinere Unstimmigkeiten und mehr Windgeräusche. Auch unter Haube oder im Innenraum entstehen so nach und nach Geräusche, die man aus technischer Sicht ignorieren darf, aber in Summe nicht schön sind. Ich habe Zweifel, ob meine Chrombrille noch immer leiser ist, als es der 9-3 I war?
Ich fahre sie weiter. Noch immer gerne! Aber die Jahre (und die Ersatzteilsituation) gehen weder an dem Auto, meiner anfänglichen Begeisterung noch meinem ursprünglichen Besitzerstolz spurlos vorbei. Und sind die Räder anderer Autos nicht genauso rund?
Ich fahre sie weiter, weil sie ihren Job erledigt und weil ich, so lange man SAAB noch im Alltag fahren kann, am liebsten in einem SAAB sitze. Das liegt auch wiederum an Kleinigkeiten – aber es sind viele und es sind positive. Das Gesamtpaket ist eben stimmig und das Design ist gut. Es fühlt sich im Laufe der Jahre nur immer selbstverständlicher an. Aber gerade fällt mir wieder ein, wie mich die rote Beleuchtung eines zerklüfteten und überladenen Armaturenbretts während einer langen Nachtfahrt fast in den Wahnsinn getrieben hat. Wie sehr ich mir gewünscht habe, die Fahrt möge enden oder ich könnte sie in einem SAAB fortsetzen.
Danke an Herbert Hürsch für diese Saab Geschichte! Wie fährt es sich im Alltag mit einem älteren Saab? Was erlebt man, wie reagieren Freunde, Kollegen und die Familie? Mit Nachsicht, Begeisterung oder Mitleid? Wie hält man den Saab am Leben, was erlebt man mit Ersatzteilen und Werkstätten, wie optimiert oder restauriert man den alten Schweden?
Ein weites Themenfeld für die “Saab Geschichten 2019!”. Herausfordernd, aber auch interessant. Wie sieht es bei den Fans aus, wie stark schlägt das Saab-Herz im Alltag? Schreibt es uns, es lohnt sich!
Was die Chrombrille betrifft, gefällt sie mir von der ersten 9-5I Baureihe am besten. Sie wirkt immer noch modern im Straßenbild und wird nicht für ein altes Auto gehalten.
Kann man schon zum Baby gratulieren, wenn ja, dann herzlichen Glückwunsch und alles Gute!
Das “Baby” bekommt wohl ebenfalls bald Pickel. So wie die Dachantenne …
Vielleicht hätte ich die zeitlichen Abläufe klarer darstellen sollen? Ich dachte, das ergibt sich aus dem Beitrag (“Aber wie ist die eigene Wahrnehmung 2019, nach knapp 12 Jahren und gut 125.000 Km?”), den Bildern und den Bildunterschriften (“Zwei Vierjährige: das prenatal unfallgeprüfte Wunschkind und der Ersatz für den 9-3”) …
Die Chrombrille fand ich nie so prickelnd, ganz im Gegenteil. Ich war entsetzt als ich die ersten Bilder im Netz sah. Ausserdem haben sie den Saab Schrifzug am Kühlergrill doch glatt vergessen, oder?
Jahre später sehe ich das entspannter. Die Brille hat scheinbar doch ihre Qualitäten und bleibt ein echter Saab durch und durch. Auch bei kleinen Schwächen, die ja scheinbar alle Autos haben. Danke für den Artikel!
FACELIFT
Ging mir ähnlich. Man sieht (insbesondere im direkten Vergleich mit dem Vorgänger), dass das Auto mal anders gedacht war. Ohne Eyeliner und mit den alten Rücklichtern ist das Design wirklich aus einem einzigen Guss …
Und doch bin ich SAAB für die Chrombrille sehr dankbar. Sie sieht deutlich moderner aus und ist es in manchen Punkten ja auch tatsächlich (Beispiel Xenon). Gleichzeitig hat man an einer relativ steilen Frontscheibe und großen, tief ansetzenden Seitenfenstern festgehalten, die für einen guten analogen Blick und Raumgefühl sorgen. Diese Kombination aus unmodisch und altbewährt aber technisch und selbst optisch trotzdem irgendwie modern, gefällt mir sehr gut. Und sie ist wohl relativ einzigartig …
… denn als der SC mit dem MY 2010 eingestellt wurde, waren hektische Modellwechsel und somit der jeweils letzte Schrei auch blödsinniger Moden und Designs längst Usus.
ja ja, die “Chrombrille”…
Als ich den SAAB 9-5 damals das 1x sah, dacht ich: was ist den bloss mit den Schweden los??? Häßlich hoch3! Zu wenige wurden bei mir in der Region gekauft/gefahren. Es blieb lange bei diesem ersten Eindruck. Das änderte sich erst, als ich für einige Tage in Motala weilte, um viel Fahrrad zu fahren 😉 . Ich sah an jeder Straßenecke div. “Chrombrillen”, in den erfreulichsten Farbkombinationen und Ausstattungen. Da kippte meine Erstwahrnehmung. Ich erkannte, wie deutlich moderner dieser SAAB doch eigentlich war und zum damaligen Zeitpunkt auf die späteren Modelle vorgriff: Z.B. der letzte 9-3-er oder der letzte 9-5 NG.
Leider blieb der Wunsch nach einer “Chrombrille” nach diesem Schwedenaufenthalt unerfüllt. Dafür überwiegt mittlerweile die Freude an den letzten reellen Exemplaren.
Allen Besitzern eine gute entspannte und unfallfreie Fahrt!
Ungeschminkt und ehrlich. Saab am Sonntag macht Freude und der 9-5 ist immer noch ein schönes Auto. Die Kleinigkeiten, wie die Griffmulde, sollte aber jede halbwegs engagierte SAAB Werkstatt beheben können. Oder mangelt es daran in der Hauptstadt?
Schöner, weil sehr ehrlicher Bericht. Ernüchternd? Realistisch? Beides- aber ich bin froh, dass es meiner Chrombrille besser geht. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass ich ihn erhalten werde, trotz 240.000km. Bis auf die sehr besch… Ledersitze ist alles gut und kleine Nickeligkeiten werden immer schnell gemacht!
Doch, genau dort (ins Kommentarfeld) gehört das hin. Hätten Sie den Blog nicht zum 1.111ten Abonnenten beglückwünscht und für gute Arbeit gedankt, hätte ich das gemacht. Oder vielleicht ein anderer Leser …
SAAB lebt eben – ganz reell und mit mehr Freude als Unbill.
Danke für diese reelle SAAB-Story. Keine Schönfärberei, reell, wie der Alltag sich nun einmal darstellt. Mit Höhen und Tiefen. Und trotzdem: weiterhin mehr Freude als Unbill mit der “Chrombrille”! 🙂
P.S.: gehört zwar nicht in dieses Kommentarfeld, doch ich finde es ist zumindest 1 Erwähnung (oder hab´ ich etwas überlesen???) wert: Herzlich Willkommen dem 1111 Abonnenten! Die langsam steigende Zahl zeigt: das Interesse am super SAAB-Blog ist weiterhin erfreulich hoch! Daher auch: Ein herzliches Dankeschön an das gesamte Blogteam für interessante und spannende Geschichten und Einfälle die SAABianer einzuspannen… Macht weiter so!