Alte Feindbilder bringt der Krieg zurück und das ist nicht gut
Wir schreiben die zweite Woche des russischen Angriffskriegs. Die Ukraine kämpft und blutet, aber sie fällt nicht. Der Krieg bringt alte Feindbilder zurück. Er drängt uns heraus aus der Komfortzone. Vieles kommt auf den Prüfstand, und das betrifft auch den Blog. Wir müssen umdenken, eines unserer Projekte wird wahrscheinlich zurückgestellt. Denn der Krieg in Europa verändert alles. Mehr, als wir uns eingestehen wollen. Aber wir müssen aufpassen. In alte Feindbilder zurück zu verfallen, ist gefährlich.

Die Gespenster der Vergangenheit
Meine beiden Großväter waren sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Politisch standen sie in gegensätzlichen Lagern, und dass sie miteinander auskommen mussten, war wohl eine auf Gegenseitigkeit basierende Zumutung. Aber was erträgt man nicht, wenn es um die Familie geht? Es gab aber die eine Sache, da waren sie sich einig.
Aus Russland kommt nie etwas Gutes. Denn dort steht der Feind.
Als Kind hörte ich das öfter, wenn die beiden Alten im Gespräch zusammensaßen. Das, was man als Kind gehört hat, prägt. Als ich viele Jahre später in Potsdam mit dem Firmenwagen in einen russischen Militärkonvoi geriet, war es wieder präsent. Ich kannte, als Kind einer Garnisonsstadt, die Amerikaner. Diese GI, immer locker, Überlegenheit ausstrahlend. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einen Kaugummi kauend. Das waren John Wayne und der junge Elvis in Uniform.
Und dann die Russen. Das komplette Gegenteil. Schlecht sitzende Uniformen, grimmig schauende Menschen. Jenseits der freundlichen Cowboys, die durch die Prärie reiten. Der Militärkonvoi, dessen Fahrzeuge bedrohlich erschienen, verfeuerte irgendwas, das eventuell fossilen Ursprungs war. Auf jeden Fall war es zündfähig und roch penetrant beißend.
Das also war er. Der Feind meiner Großväter.
Natürlich. Ich bin, wer ich bin. Das Resultat meiner westlichen Herkunft und meiner Erziehung. Ich verpackte im Internat kurz vor Weihnachten Pakete für den Osten. Also für die DDR. Weil es dort schlecht lief, der Kaffee knapp und Zahnpasta nicht verfügbar war. Und an Schokolade, so erzählte man uns, sei erst gar nicht zu denken. Das ging so, Jahr für Jahr. Ab und zu kam ein Brief aus dem Osten zurück. Der bestätigte alles das, was wir Kinder gelernt hatten.
Dort, wo die Russen standen, da war es nicht gut.
Zum Glück dreht sich die Welt weiter, und die Generation nach mir in meiner Familie sah die Sache mit Russland völlig anders. Durch das Studium gab es russische Freunde. Es gab Flüge, die jenseits des Ural führten, gemeinsame Hobbies und für eine gewisse Zeit auch Pläne für gemeinschaftliche Geschäfte.
Das gab mir Hoffnung. Dass die Welt lernt und besser wird. Und dass junge Menschen nicht alte Fehler wiederholen.
Alte Feindbilder bringt der Krieg zurück
Im Nachhinein muss aber irgendwann der Punkt gewesen sein, als die Entwicklung falsch abbog. Da war Putin, der eine Zeitlang einen smarten Präsidenten gab. Anders als seine sowjetischen Vorgänger, moderner, weltoffener. War das alles Fassade oder hatten wir eine Illusion, die wir sehen wollten?
Irgendwann wurde aus dem Präsidenten der Machtpolitiker, der brutal über Leichen ging. Georgien, Armenien, Syrien. Die Rhetorik wurde heftiger, nationaler, und die Diskussionen mit den russischen Freunden verschärften sich. Bald gab es keine Flüge über den Ural mehr.
Der Krieg wirft uns in der Entwicklung zurück. Nichts wird besser, ganz im Gegenteil. Alte Feindbilder klettern aus der Gruft, Ängste aus der Vergangenheit schleichen sich in die Gegenwart. Für die Zukunft sind das keine erfreulichen Perspektiven.
Konsequenzen ziehen
Die Ukrainer verteidigen ihr Land. Wahrscheinlich verteidigen sie viel mehr. Sie verteidigen die Republik Moldau (Moldawien). Eine frühere Sowjetrepublik, für die ein ähnliches Szenario wie für die Ukraine besteht. Vielleicht schützen sie auch Lettland, Estland, Litauen. Die Staaten könnten die nächsten auf der Liste der Renaissance der Sowjetunion sein. Die Angst ist da. Und wer garantiert, dass damit der Hunger des russischen Präsidenten nach Land und Macht gestillt sein würde?

Also müssen wir die Ukraine unterstützen. Wie auch immer, jeder wie er kann. Vielleicht mit Geldspenden, mit der Aufnahme von Geflüchteten. Ein Szenario, an das wir uns heranwagen müssen, wenn der Krieg länger dauert.
Und wir sollten weitergehende Überlegungen haben. Da ist China, das den russischen Krieg nicht verurteilt. Im Gegenteil! Das mit Taiwan einen ähnlichen Punkt auf der Agenda hat. Auch hier soll ein kleines, demokratisches Land “zurückgeholt” werden. So wie wir Putin mit Geld für seine Energieträger füttern, so füttern wir Xi, in dem wir seine Produkte kaufen.
China ist ein undemokratisches Land, das seine kleineren Nachbarn drangsaliert, indem es im südchinesischen Meer Inseln aufschütten lässt, darauf Militärbasen errichtet und territoriale Ansprüche geltend macht. So wie im Fall Russlands hat die deutsche Politik die chinesischen Ambitionen über ein Jahrzehnt ohne Konsequenz hingenommen.
Nicht in alte Denkmuster verfallen
Was wir nicht tun sollten, ist in alte Denkmuster verfallen. Nicht die Feindbilder der Großväter übernehmen. Es gibt nicht den bösen Russen oder den bösen Chinesen. Diese Denkweise schleicht sich heimlich ein. Wer die kurzen Pressemeldungen aus Deutschland diese Woche aufmerksam las, der sieht die Gefahr.
Ich wage zu behaupten, dass die Mehrheit des russischen Volkes keinen Angriffskrieg wollte und will. Ebenso wenig, wie die chinesische Bevölkerung Taiwan mit Waffengewalt nach Hause holen möchte.
Was uns bleibt, das ist es zu unterscheiden. Keine chinesischen Produkte kaufen, wenn möglich. Nicht, solange Peking nicht klar Stellung gegen den Krieg bezieht. Aber die Dinge klar benennen. Ja, es ist Krieg, es ist eine Invasion, es wird gemordet. Es ist mit jedem Tag mehr nicht nur Putins Krieg, was eine bequeme verbale Position deutscher Politik ist.
Es wird mit jedem Tag mehr ein Krieg der russischen Armee, ihrer Generäle und Hinterleute. Das ist die hässliche Wahrheit, mit der wir irgendwie zurechtkommen müssen. Das ist anstrengend und zumutend, und es tut mir leid, wenn ich damit am Sonntag meine Leser belästige.
Eines aber muss klar sein. Es gibt kein Verständnis für Putin und seine Beweggründe. Ein Angriffskrieg ist niemals zu entschuldigen.
Wo kommen die Bilder für den Beitrag her? Die Bilder aus Chernihiv kommen von der “Northern Territorial Defence Force”. Ihre Echtheit wurde von unabhängigen Journalisten bestätigt. Sie zeigen ein Wohngebiet nach einem russischem Angriff am 3. März.
In Chernihiv gab es vor dem Krieg eine lebendige Saab Szene. Ein Video der Saab Fans aus Friedenszeiten haben wir vor einigen Tagen gezeigt. Was mit den Fans dort geschah, wissen wir nicht. Die Kontaktaufnahme scheiterte, Webseiten sind offline.
Chernihiv liegt unter dem Feuer russischer Truppen, die eine Auslöschung der Großstadt vorbereiten, wie der Tagesspiegel schreibt.
Danke, Tom, für den nachdenklichen Text.
Auf der Welt gibt es derzeit 20 Kriege. Davon ist jeder einer zu viel. Nun ist einer so nah – und geht uns nah. Vielleicht auch, weil wir nun unsanft darauf gestoßen werden, dass wir Mitschuld auf uns geladen haben – an diesem Krieg, indem wir durch unsere Abhängigkeit russischer Energieträger jeden Tag Putins Kriegskassen füllen; an Menschenrechtsverletzungen in China, weil wir so gerne alles so billig wie möglich haben wollen. Ob es wirklich eine gute Idee ist, mit autoritären Regimen Geschäfte zu machen – diese Frage ist überfällig. Und man hätte sie schon lange mit einem deutlichen Nein beantworten können. Unser Wohlstand fußt auch darauf, dass die Dinge andernorts sehr schlecht stehen auf dieser Welt. Da schauen wir lieber nicht so genau hin, nun müssen wir es zwangsläufig. Ob daraus Lehren gezogen werden? Gerade erst gestern hörte ich, dass ein großer Deutscher Autobauer nun in der Türkei ein Werk für Kabelbäume hochziehen will, weil das Werk in der Ukraine nicht liefern kann. Das klingt nach weiter so: Wie die Türkei regiert wird, wie es dort um Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit steht, wissen wir alle. Doch scheint es nicht zu hindern, auch angesichts der aktuellen Katastrophe, darüber hinweg zu sehen, wenn es darum geht, “gute” Geschäfte zu machen. Ich wanke zwischen Sprachlosigkeit und Angewidert-Sein…
Danke an euch.
Ich habe mir auch die Frage gestellt: sind andere Dinge nicht wichtiger als manches, das sich noch vor 14 Tagen als wichtig darstellte? Ja und nein. Wenn ich mich in Schockstarre versetze, hat Putin das erreicht, was er ursprünglich wollte. Uns mit dem Bild des wild gewordenen sibirischen Bären einzuschüchtern. Nein, das lasse ich nicht zu. Aber die Liste der Prioritäten hat sich verändert. Und die Wertschätzung gegenüber manchen Dingen.
Meine Oma sagte – sie ist 90 und Ende Dezember 1944 las Zwölfjährige mit der Familie aus der Nähe von Marienburg nach Nordwestdeutschland geflüchtet – sie hatte gehofft, dass sie so etwas in Europa nie, nie wieder erleben müsse. Und nun doch. Krieg, Flucht.
Und es gab eine sehr interessante Begebenheit, die mir mein Bruder berichtete. Er arbeitet in einer Maschinenfabrik. Am Empfang arbeitet eine Deutsche aus Russland. Er nennt sie liebevoll den “Empfangsdrachen”. Sie ist resolut. Und dann gibt es einen Arbeiter, einen “echten” Russen, der bis zum Freitag Putins Vorgehen verteidigt hat. Er sieht staatliches Fernsehen aus Russland. Er war – wie mein Bruder sagte – unbelehrbar. Bis, ja, bis der Empfangsdrache sich ihn zur Brust genommen hat und ihm Videos vom Beschuss von Wohngebäuden in Kiew, Charkiw, etc. zeigte. Er war still, dann entsetzt. Diese Bilder hatte ihm das Staatsfernsehen – und dort ist es eins – nicht gezeigt. Es muss einen Schock ausgelöst haben. Er hat nun Angst um seine Neffen, die derzeit in der russischen Armee dienen müssen. Er hatte sich in seiner Ansicht geirrt.
Und solange es diese Momente gibt, ist noch nicht alles verloren. Und hoffentlich vergessen wir nicht diejenigen Russen, die derzeit aus ihrer Heimat nach Finnland flüchten, weil sie Angst vor den Entwicklungen im eigenen Land haben.
Danke Christian Arndt,
die Geschichte aus der Maschinenfabrik macht Mut. Und sie zeigt auf, wie wichtig es ist, dass wir Russen in Deutschland jetzt nicht ausgrenzen und nicht anfeinden.
Genau das wäre Putins Narrativ, die Bedrohung Russlands und eines jeden Russen. Wenn russische Kinder genau jetzt auf dt. Schulhöfen NICHT von Mitschülern angepöbelt, Kollegen nicht ausgegrenzt, keine PKW mit russischen Kennzeichen zerkratzt werden, ist Putin widerlegt. Russen in Deutschland machen dann eine ganz andere Erfahrung. Niemand ist “dem Russen” feindlich gesonnen. Putin wehrt gar keine Gefahr ab, sondern er selbst ist die Gefahr …
Russen, die das im Ausland erkennen, können als Multiplikatoren und durch ihre familiären Bindungen und Kontakte tief in ihre Heimat hineinwirken – nicht als “westliche Agenten”, sondern einfach als Russen, die an Verständigung und Freundschaft glauben und sich Frieden wünschen.
Schwere Kost am Sonntag. Alles richtig beschrieben, wir sollen nicht in alte Schemata zurück verfallen. Die Gefahr sehe ich durchaus, und es wäre tragisch, wenn das passieren würde. Wir wären zurück im kalten Krieg (der jetzt nicht mehr kalt aber Krieg ist. Und hätten Jahrzehnte verloren.
Geschichte wiederholt sich nicht.
Nein, sie lastet zwar auf uns – auch mit ihren alten Feindbildern, die sie parat hält – aber sie schreibt sich ohne Wiederholung fort …
Die “verbale Position deutscher Politiker”, dass es Putins Krieg sei, mag in gewisser Hinsicht eine “bequeme” sein. Sie ist in ihrer innen- und außenpolitischen Wirkung aber auch gut und richtig. Es ist genau diese Rhetorik, die alten Feindbildern das Zaumzeug anlegt.
Geschichte wiederholt sich doch.
Es gibt ein interessantes Muster, dem Diktatoren zwanghaft seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden folgen. Und es ist für sie selbst zuverlässig absolut verheerend, denn sie alle streben, indem sie sich ausschließlich mit Jasagern, Kadavergerhorsam in ein künstliches Umfeld ohne Widerspruch begeben, zuverlässig einen vollständigen Realitätsverlust an.
Das Ende ihrer Diktatur und ihr persönliches Schicksal erkennen sie nichtmal ein paar Tage im Voraus. Die Liste ist lang, allen Lesern sind wahrscheinlich etliche Beispiele bekannt. Hier nur ein exemplarisches und durch und durch typisches Ende eines Diktators: Der große Saddam Hussein lag bei seiner Verhaftung in Embryonalstellung seit Tagen wimmernd in einem Erdloch …
Um die Brücke zurück zu Putin zu schlagen. Seinen persönlichen Realitätsverlust hat er längst organisiert, sein näheres Umfeld entsprechend ausgerichtet, Volk und freie Presse unterdrückt. Inzwischen kursieren trotzdem oder genau deshalb Videos russischer Soldaten, die erstens als authentisch eingestuft werden und zweitens von einem Clash zwischen Putin und seinen Truppen zeugen.
Die wähnten sich nämlich entsprechend der vollständig verzerrten Realität und Propaganda eines Wladimir Putins auf einem harmlosen “Manöver”, sind jetzt aber seit 9 Tagen im Krieg und haben seit 3 Tagen nix mehr gegessen.
Putin leidet an Realitätsverlust und seine Truppen kommen sukzessive in der Realität an. Es ist gut und richtig, wenn wir jetzt ausschließlich von Putins Krieg sprechen und alte Feindbilder ganz fest in den Archiven verschließen …
Geschichte wiederholt sich nicht. Der Mensch lernt. Unbelehrbare gilt es zu identifizieren und zu isolieren. Es ist Putins Krieg und es ist Putins persönlicher Realitätsverlust. Je früher sich diese Sicht auch unter Russen mehrheitlich durchsetzt, desto tiefer wird man sich dem russischen Volk inklusive seiner Soldaten verbunden fühlen.
Es ist Putins Krieg. Ich finde das nicht nur bequem, sondern durchaus eine gültige Sicht.
Es ist noch Putins Krieg. Das russische Volk wird aber zum Handlanger und Täter, um so länger das Töten dauert. Ich setze auf zivilen Ungehorsam in Russland, der Putin zum Einlenken bringen wird. Eine schwache Hoffnung, aber eine Hoffnung.
Stimmt. Je länger ein Volk den Realitätsverlust seines Diktators trägt, desto mehr Schuld lädt es selbst auf sich …
Ich teile Ihre Sicht und Hoffnung. Und es gibt vielleicht Anlass zur Hoffnung? Schwierig, die Nachrichten einzuordnen. Unabhängige Bestätigungen fehlen überwiegend. Aber wenn es nicht bloße Propaganda ist, dann gibt es tatsächlich Unmut und Sabotage innerhalb der russischen Streitkräfte. Das fände ich verdammt gut …
Und wenn es so wäre, hätte der Mensch seit WW II erstaunlich viel gelernt. Und es wären Russen, die uns heute zeigen würden, welchen positiven Unterschied Ungehorsam macht und wie viele Leben er retten kann. Das wäre super. Man wird sehen …
Schon heute sind bestimmte Russen für mich persönlich die größten Helden dieses Krieges. Die Kinder, Mütter und Großmütter Russlands im Knast, die für Frieden demonstriert haben, sind sämtlich Helden. Ich bewundere jeden einzelnen. Großartige Menschen, die Geschichte neu schreiben. Alles Helden, denen ich auf Knien danken möchte …
P.S.
“Noch”, Sie sagen es …
Jeden neuen Tag des Krieges vermisse ich ein deutliches Zeichen aus den Reihen der russischen Streitkräfte schmerzlicher als am Vortag.
Etwa ein Kampfpilot, der lieber hinter der Front landet oder dort den Schleudersitz nutzt und seine MIG kontrolliert abstürzen lässt, als eine Mission gegen Zivilisten durchzuführen.
Tom hatte gegen Ende der Diskussion unter seinem ersten Artikel einen wertvollen Kommentar zu internationalem Recht und Gerichtsbarkeit zugefügt. Sehr lesenswert, wahrscheinlich aber nur noch von wenigen zur Kenntnis genommen.
Es sind inzwischen tatsächlich Ermittler in der Ukraine, die Kriegsverbrechen und Handeln wider die Menschlichkeit für Anklagen dokumentieren. Mitglieder der russischen Streitkräfte müssen möglicherweise für den Rest ihres Lebens mit Festnahme, Anklage und Verurteilung rechnen.
Wladimir Putin (7.10.1952 geboren) ist fast 70 Jahre alt. Er hat nicht mehr viel zu verlieren. Junge russische Soldaten haben ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie müssen sich so langsam entscheiden, ob sie auch in 40 oder 50 Jahren noch immer international gesuchte Kriegsverbrecher sein, oder lieber heute einem alten Mann rechtzeitig den Rücken kehren möchten …
Sie könnten Helden werden, lebenslänglich international gefeiert, anerkannt und auf Knien bedankt. Oder sie bekommen von Putin kurz vor dessen Ende eine Medaille für “Tapferkeit”, weil es ja so wahnsinnig tapfer war, sich ihm nicht zu widersetzen und stattdessen ein Krankenhaus anzugreifen. Es stimmt alles, was Sie und Tom dazu sagen …
Es gibt definitiv ein nur kleines Zeitfenster. Innerhalb dieses Fensters ist es “noch” Putins Krieg. Jeder Schuss, jede Bombe und Rakete in seinem Namen insbesondere gegen Zivilisten schließt dieses Fenster – es schrumpft täglich und sogar stündlich. Ich hoffe noch immer, dass wir sehr bald und rechtzeitig ein paar Helden der Humanität feiern dürfen, bevor es endgültig ein russischer Krieg ist, der das Verhältnis Russlands zum Rest der Welt weit über Putins Lebensspanne hinaus schädigt …
Es lohnt sich nicht, mit 20 Jahren für einen 70-Jährigen sein Leben zu geben, gar das Leben 5- und 10-jähriger Ukrainer zu opfern, schon mit 20 oder 30 Jahren für den Rest des eigenen Lebens zum Kriegsverbrecher zu werden. Genau jetzt haben Russen im Militär die Wahl. Sie können sterben, sie können töten, lebenslänglich Täter oder Helden sein. Sie müssen sich entscheiden, so lange es “noch” Putins Krieg ist. Schon morgen ist es auch ihr Krieg …
Und wenn sie in 20 Jahren vor dem internationalen Gerichtshof stehen, kommt da ganz sicher kein 90-jähriger Putin. Da käme nix und niemand, um die Luft-Boden-Rakete auf das Krankenhaus, den Kindergarten, die Bäckerei oder das AKW mit der NATO-Osterweiterung zu rechtfertigen. Da werden dann nur noch Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt, die häufig nicht zwingend waren und ausgeführt wurden, obwohl das eigene Leben nicht unmittelbar bedroht war.
Insbesondere Piloten im Einzelcockpit werden es schwer haben, ihre zahlreichen (zivilen) Opfer als ein zwingende und alternativlose Konsequenz darzustellen. Sie sollten als erstes desertieren und verweigern. Sie haben es eigentlich so leicht, wie sonst niemand. Sie haben jedenfalls die idealen Fluchtfahrzeuge. Man wartet bislang aber vergeblich auf ihre humanen Gesten. Echt traurig …
Lieber Tom.
Danke für die bewegenden Gedanken und Anregungen zum Sonntag. Meine persönlichen könnten Seiten füllen. Über Geschichte, Versagen der Politik, Ohnmacht, unsere eigene Verantwortung, oder auch persönliche Erlebnisse in der von “Brüderschaft” mit Russland geprägter schwaz-weissen Realität meiner sozialistischen Jugend. Ich werde es jedoch an dieser Stelle nicht tun. Im steten Wechselbad der Gefühle habe ich beschlossen, zunächst das Wenige in meiner Macht setehende zu tun. Persönliches und Saabiges wurde in die Warteschleife geschoben. Ein Hilfsprojekt ins Leben gerufen. Meine in Polen lebende Familie kann die finanziellen Spenden direkt vor Ort einsetzten. Viele kleine Tropfen mögen vielleicht auch den heissesten Stein ein wenig abkühlen.
Die moralische Frage ob es vertretbar ist, mich in diesen Zeiten den “Banalitäten” des Lebens zu widmen, habe ich mir selbst heute morgen erneut mit “Ja” beantwortet. Die persönliche Warteschleife wird ab morgen abgearbeitet. Gedanken, Ängste und Spekulationen darüber, was als nächstes passieren wird, versuche ich so gut wie möglich im Zaun zu halten. Da das Leben das Drehbuch ohnehin ständig ändert.