Dieser Saab 900 Turbo – Fahrspass ohne digitale Assistenten
Vor der Türe parkt der Saab 900 Turbo. Auf dem Schreibtisch liegt der Zündschlüssel. Halte ich es lange im Büro aus? Ich erledige, was nötig ist, packe den Schlüssel und murmele irgendwas davon, dass ich mal kurz nach Frankfurt muss. Und weg bin ich! Das war nötig, denn auf dem Parkplatz wartet ja dieser Saab 900 Turbo.
Am Abend zuvor. Ich kämpfe mich durch den Frankfurter Feierabendverkehr. 900 fahren ist archaisch. Die Liste der an Bord verfügbaren Assistenzsysteme beschränkt sich auf eine Servolenkung und einen Bremskraftverstärker. Sonst gibt es nichts. Kein ABS, kein ESP und schon gar keine Spurhalte- oder Kaffeetrinken-Assistenten.

Die Klimaanlage funktioniert nicht, braucht man auch nicht! Nicht im Saab 900 Turbo. Hintere Aufstellfenster aufgeklappt, Schiebedach offen. Das funktioniert recht gut, solange die Fuhre rollt. Steht sie, wird es ungemütlich warm.
Der 900 hat eine 3-Gang Automatik. Das ist nicht schlecht im Feierabendverkehr. Eine Gedenksekunde, dann geht es los. 1 – 2 – 3 und mehr gibt es nicht. Das funktioniert gut, besser als erwartet. Der 900 bewegt sich in Richtung Frankfurter Kreuz. Brenzlig wird es dann, wenn eines dieser Computer-unterstützten Fahrzeuge auf Briefmarkenabstand in die Lücke zwischen Saab und dem vorher fahrenden Fahrzeug einschert.
Dann schießt der Blutdruck nach oben. Der 900 ist nur geliehen, und vor dem H-Kennzeichen scheint niemand Respekt zu haben.
Auf der Autobahn
180 soll der Turbo als Höchstgeschwindigkeit erreichen. Ich glaube es ihm, belasse es bei gemütlichen 120 bis 130 km/h. Es ist laut an Bord. Offene Fenster, offenes Schiebedach, die Mechanik lässt keinen Zweifel an ihrem Arbeitseifer. Störend ist es nicht. Das ist ursprüngliches Autofahren, etwas für alle Sinne.
Der 900 Turbo ist souverän. Er ist, um es konkret zu beschreiben, ausreichend motorisiert. Muss es einmal schneller gehen, dann stehen rasch 160 auf dem Tachometer! Das tut er unaufgeregt, das Gefühl vermittelnd, stets genügend Reserven zu haben. So wie einer der großen V8 Motoren, die ihre Leistung lässig aus Hubraum schütteln konnten.
Runter von der Autobahn. Auf die Landstraße.
Dann, in Bayern angekommen, verlasse ich die A3. Es geht weiter über die Landstraße und auf meine Hausstrecke. In einer schnellen S-Kurve fühlt sich der 900 sportlich an. Was, wie der Blick auf den Tacho zeigt, mehr Gefühl als Tatsache ist. Modernere Autos sind schneller, vermitteln aber das Gefühl nicht. Das Fahrwerk ist eine Anmerkung wert. Ein kurzer Radstand, Starrachse hinten, Schraubfedern vorne. Klingt erst einmal nicht so beeindruckend. Ist aber gut gemacht.
Der 900 Turbo vermittelt heute immer noch einen guten Fahrkomfort und eine tolle, sichere Straßenlage. Die Abstimmung des starken Fronttrieblers brachten andere Autofirmen, selbst 10 oder 20 Jahre später, nicht so gut hin wie die Menschen bei Saab. Respekt, und der Wunsch nach elektronischen Assistenten kommt in diesem Auto nicht auf.
Im Carport parkt der 900 neben dem 9000. Der sieht, im direkten Vergleich, ziemlich wuchtig und repräsentativ aus. Auch sehr modern, obwohl er ebenfalls schon zu den Klassikern zählt.
Am nächsten Tag
Ich sitze im Büro. Der Fahrzeugschlüssel liegt auf dem Tisch. Die Gedanken drehen sich um den 900. Auf seinem Schlüssel sehe ich den Ymos Schriftzug. Da war einmal was! Ymos (Link), einstmals einer der großen deutschen Lieferanten der Autoindustrie. Ein Unternehmen, das heute Geschichte ist. In meiner Nähe befindet sich ein altes Ymos Werk.
Dort stellte man auch Teile für den Saab 900 her. Ein Abstecher an historischer Stelle. Vor dem Tor 3 posiert der rote Saab für ein Foto. Heute gehört das Werksgelände einem Investor, es trägt den Namen Waldaschaff Automotive (Link). So wie viele größere Unternehmen in der Region ist es chinesisch. Die Zeiten sind anders, aber nicht besser.
Zurück nach Frankfurt
Noch ein Wort zur Automatik! Dieses filigrane, vornehme Stengelchen der Automatik, das in den Innenraum ragt, würde auch in einem Daimler oder Rolls-Royce eine gute Figur abgeben. Es wirkt aristokratisch und passt 2020 besser als 1987 zu diesem Auto.
Es sagt: “Hetze mich nicht durch die Gegend, mit Ruhe kommen wir auch ans Ziel!” Der 900 wird zum Begleiter auf der Reise. Er ist kein Sportler, auch wenn er könnte.
Keine Ahnung, wie viele der 145 PS im Automaten auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es spielt auch keine Rolle. Der 900 Turbo macht Spaß. Er ist eng, er ist laut. Er ist unglaublich stilvoll. Jeder einzelne Kilometer wird zum Genuss. Man registriert die Menge an Erlebnissen und Eindrücken, die uns moderne Autos stehlen.
Nachtrag
Gerard Ratzmann vom Saab Service Frankfurt (Link) hat seinen 900 wieder. Ich sitze in meinem 9-3 Aero. Klimatisiert, 4-Gang Automat, auch schon 20 Jahre alt. Die Zeitreise ist noch nicht ganz am Ende. Ich fühle mich wie 1993, als ich zum ersten Mal einen 900 Turbo der zweiten Serie fuhr. Und staunte, wie leise und komfortabel dieses Auto ist.
Eigentlich wollte ich ja gar nichts zur YMOS AG schreiben, es ist ja nur reine Randnotiz im Artikel und, wenn überhaupt, bestenfalls noch von lokaler Bedeutung.
Allerdings hat mich die Erwähnung dazu gebracht, mich zu fragen, wie es denn mit ihr zu Ende gegangen ist? Seit 2000 war es ja ‘nur’ noch eine Verwaltungsgesellschaft für das Werksgelände und einige Beteiligungen, die 2009 in die Insolvenz gegangen ist, als sie die Betriebsrenten nicht mehr bezahlen konnte. Und danach?
Die Webseite ist jedenfalls noch online, auch wenn keinerlei aktuelle Informationen darauf zu finden sind. Anscheinend sind auch die Aktien noch börsennotiert und zucken immer mal wieder nach oben, wenn ein Sanierungs- und Entwicklungsplan für das Werksgelände durch die Presse geht.
Ohne das abschließend recherchiert zu haben, sieht es für mich so aus, als ob sich die Firma seit nunmehr 11 Jahren in der Insolvenz befindet. Da kann man sich ja schon fragen, wie so etwas möglich ist?
Und hier schließt sich dann, wenigstens für mich, auch wieder der Kreis zu Saab und ich frage mich, was macht eigentlich das Insolvenzverfahren von Saab Automobile?
Zugegeben, nicht gerade das unterhaltsamste Thema, aber vielleicht kann das Blogteam im Rahmen der im Nachgang zu den großen und kleinen Dramen in der Autoindustrie angekündigten Artikeln zu Trollhättan auch darauf noch mal eingehen, denn irgendwie interessiert es mich schon.
…und wenn man ihn wie ich als “Daily-Driver” nutzt, kommt sogar etws Mitleid auf gegenüber allen Anderen, die dieses Fahrgefühl nicht kennen und wohl niemals kennenlernen werden. Diese fahrbaren Kassenanlagen (da piepst es ja auch allenthalben…) sind ein völlig anderes Autofahren!
Der Kaffeetrinken-Spurhalte-Sonstnochwas-Assistent sitzt bei mir zwischen den Ohren.
Kaffeetrinken-Spurhalte-Assistenz
Sehr schön ! ! !
Moin,
Automatik im 900 I, ich finde das nach wie vor sehr speziell. Bleibt man unter 100 km/h ist die Geräuschkulisse angenehm. Bei mittleren Autobahngeschwindigkeiten ist das Drehzahl Niveau schon zu hoch und insgesamt gewöhnungsbedürftig. Erst ab 160 km/h und darüber vermischen sich Wind und Motorgeräusche zu einem angenehmeren Mix. Ich fahr meinen Automat trotzdem sehr gerne und bin dann lieber etwas gemütlicher unterwegs. Wenn man zu Grunde legt, dass man den Automaten zu einer Zeit bei SAAB eingeführt hat, wo der heimische Markt als Maßstab heran gezogen wurde, also Höchstgeschwindigkeit 110 Km/h, dann ist diese leicht skurril wirkende Automatik/Motor Kombi nachvollziehbarer. Da ich meinen Automaten geschenkt bekommen habe, schätze ich ihn so wie er ist. Kaufen würde ich mir immer noch eher einen Schalter.
Grüße vom Erik
Sehr schöner Bericht – mit Hingabe und Herz geschrieben!
Er lässt lang gehegte Gedanken erneut aufkommen: Brauche, vielmehr will ich neben Saab 9-3 II und Trabant P601 noch einen dritten Wagen, einen Saab 900 Turbo?
Je mehr ich hier mitlese, desto fortgeschrittener werden die Gedanken…
Diese Gedanken kommen unweigerlich, wenn man den 900 Turbo fährt. Braucht man? Nein. Will man? Ja. Ein stilvolles Auto, mit oder ohne Automatik. Zum Glück habe ich bereits einen anderen (neuen) Wahnsinn am Laufen, sodass der 900 Turbo nicht so gefährlich wird.
Das filigrane, vornehme Stengelchen…. Aristokatisch… Wer kommt auf so was außer Tom natürlich? Plötzlich sieht man die Automatik mit ganz anderen Augen. Einfach köstlich!